Veröffentlichung

Förderung von integrativem Wachstum und sozialem Zusammenhalt – Europa

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Förderung von integrativem Wachstum und sozialem Zusammenhalt – Europa

Die Systeme der sozialen Sicherheit in der europäischen Region haben sich bei der Förderung von integrativem Wachstum und sozialem Zusammenhalt bewährt. Neben der Sozialversicherung der Arbeitnehmer gehen die Systeme die Einkommensarmut und ihre Ursachen in der Regel durch steuerfinanzierte Einkommenstransfers und Sozialhilfe an. Dabei hat ein lebensbegleitender Ansatz für den Sozialschutz Vorrang, insbesondere für die umfassenden Systeme in der Region. Im Allgemeinen reduziert der Sozialschutz in Europa Risiken, die von der Geburt bis hin zum Beginn des Arbeitslebens, aber auch bei der Arbeit und in Zeiten der Arbeitslosigkeit sowie der Arbeitsunfähigkeit auftreten oder wenn eine Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich ist.

Die meisten beitragsabhängigen und beitragsunabhängigen Programme in der Region sind gut etabliert. Vor der COVID‑19-Pandemie beliefen sich die Sozialausgaben der Region (ohne Gesundheitsversorgung) gemessen am BIP auf durchschnittlich 16,5 Prozent (IAA, 2017). Die Maßnahmen, die als Reaktion auf die Pandemie ergriffen wurden – darunter neue Leistungen für Arbeitnehmer, Angehörige und gefährdete Gruppen sowie Lohnkostenzuschüsse und höhere Leistungen – haben die Ausgaben in die Höhe getrieben (IAA, 2021a).

Die Systeme der sozialen Sicherheit in der Region stehen vor der Frage, wie die Angemessenheit der Leistungen, die finanzielle Tragfähigkeit sowie der Umfang und die Reichweite des Versicherungsschutzes u.a. am besten verbessert werden können. Informell Beschäftigte, Armut und größere Ungleichheiten ebenso wie die Bedürfnisse aller gefährdeten Gruppen erfordern maßgeschneiderte Antworten.

Die volksgesundheitlichen und sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie erschweren ein politisches Umfeld, das durch Globalisierung, demografische Alterung, Klimawandel, technologische Entwicklungen und sich verändernde Arbeitsmärkte geprägt ist. Als verlässliche Partner der Regierungen, die die wirtschaftliche Entwicklung und den Aufschwung unterstützen, stellen sich die Sozialversicherungsanstalten in der Region erfolgreich der Herausforderung, integratives Wachstum und sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Kernaussagen

  • Das Konzept der wirtschaftlichen Befähigung – Menschen in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihr Wohlbefinden zu steigern – ist für jede Definition von integrativem Wachstum und sozialem Zusammenhalt von grundlegender Bedeutung. Durch die wirtschaftliche Befähigung schafft die soziale Sicherheit wichtige Voraussetzungen für integratives Wachstum und sozialen Zusammenhalt. Dabei befähigen sowohl die nachfrage- als auch die angebotsseitigen Auswirkungen der sozialen Sicherheit.
  • Die soziale Sicherheit ist ein wichtiges politisches Instrument, das die umfassendere Agenda für Inklusion und sozialen Zusammenhalt fördert. Zu diesem Zweck sind politische Synergieeffekte wichtig. Die Länderbeispiele Malta und Irland zeigen die Effizienzgewinne, die sich aus einer wirksamen Koordinierung und Integration zwischen Behörden und Sozialpartnern ergeben.
  • Der lebensbegleitende Ansatz der sozialen Sicherheit ermöglicht es den Menschen, kontinuierlich Fähigkeiten zu entwickeln, um ihre finanzielle Sicherheit und soziale Mobilität zu verbessern. Die Fesseln der generationsübergreifenden Armut aufzubrechen bedeutet, sich mit den Schwachstellen zu befassen, und zwar beginnend mit dem Säuglingsalter, über die Kindheit, die Jugend, das Arbeitsleben bis hin zum Alter.
  • Jugendliche stehen beim Übergang von der Schule ins Berufsleben vor vielen Herausforderungen. Der durch die Pandemie verursachte Wirtschaftsabschwung hat den Arbeitsplatzmangel noch verschärft. Aktive arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Maßnahmen sind der Schlüssel zur Ermöglichung einer erfolgreichen Arbeitssuche, um eine menschenwürdige Beschäftigung zu finden.
  • Die Arbeitsmöglichkeiten für junge Arbeitnehmer in der digitalen Plattformwirtschaft haben zugenommen. Streitigkeiten über den rechtlichen Beschäftigungsstatus vieler Arbeitnehmer in der digitalen Plattformökonomie stellen eine Herausforderung dar, die dazu führen kann, dass Arbeitnehmern ihre vollen Rechte auf Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit und auf soziale Sicherheit vorenthalten werden.
  • Internationale Vereinbarungen über soziale Sicherheit tragen zur Sicherung der Rechte von Arbeitsmigranten und ihren Familien bei. Einige Länder in der Region haben unilaterale Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Arbeitsmigranten in irregulären Situationen ergriffen. Diese Maßnahmen sollten von Kommunikations- und Informationskampagnen begleitet werden, um einerseits den Zugang zu den Diensten ohne Angst vor Konsequenzen zu ermöglichen und andererseits Akzeptanz und Unterstützung in der lokalen Bevölkerung zu schaffen.

Fakten und Trends

Fakten und Trends
Arbeitslosen- und Armutsquoten
Grad der informellen Beschäftigung
Gefährdete Gruppen: Frauen, Arbeitnehmer in wirtschaftlich risikoreichen Berufen und Praktikanten

Soziale Sicherheit, Inklusion und sozialer Zusammenhalt

Die Stärke der sozialen Sicherheit als politisches Instrument für wirtschaftliche Entwicklung und integratives Wachstum beruht auf ihrer inhärenten Fähigkeit, beide Seiten der Wirtschaft zu beeinflussen. Einerseits sind die Auswirkungen auf der Nachfrageseite unmittelbar und ergeben sich aus den Einkommensmultiplikatoren der Sozialversicherungsausgaben. Die Auswirkungen auf der Angebotsseite hingegen sind möglicherweise nicht so unmittelbar, da es sich im Wesentlichen um die Rendite der Humankapitalinvestitionen eines Landes handelt. Um Menschen durch Bildung und Kompetenzentwicklung aus der Armut zu führen, brauchen soziale Investitionen zwar eine gewisse Zeit, bis sie sich auszahlen, aber die Auswirkungen können umso nachhaltiger sein, je mehr die erworbenen Fähigkeiten anschließend eine größere Einkommenssicherheit und soziale Mobilität ermöglichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die soziale Sicherheit sowohl auf der Nachfrageseite als auch auf der Angebotsseite eine befähigende Wirkung hat.

Das Konzept der wirtschaftlichen Befähigung – Menschen in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihr Wohlbefinden zu steigern – ist für jede Definition von Inklusion und sozialem Zusammenhalt grundlegend. Ohne diese wirtschaftliche Befähigung wäre es für die Menschen schwierig, sich in die Gesellschaft integriert zu fühlen. Die produktiven Kapazitäten der Menschen über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu fördern, sie dazu zu befähigen und zu unterstützen, ist eine Investition in ihre wirtschaftliche Befähigung, die wiederum einen wichtigen Weg zu Integration und sozialem Zusammenhalt bietet.

Auf Grundlage der herkömmlichen beitragsfinanzierten Programme für Arbeitgeber und Arbeitnehmer umfasst die soziale Sicherheit auch beitragsunabhängige Systeme, die sich mit Armut und ihren Wurzeln befassen. Während Sozialhilfeprogramme mit Schwerpunkt auf der Armutsbekämpfung seit langem als wichtiger Bestandteil von mehrsäuligen Systemen der sozialen Sicherheit anerkannt sind, betonen die aktuellen Entwicklungsparadigmen auch ihre Rolle als Wegbereiter, um Menschen aus der Armut zu befreien, ihren Rückfall in die Armut zu verhindern und mit der Zeit den Kreislauf der generationenübergreifenden Armut zu durchbrechen.

Der Paradigmenwechsel erkennt unter anderem an, dass die Benachteiligungen, in die Kinder hineingeboren werden, sich im Laufe des Lebens verstärken. Daher müssen Ungleichheiten und Verwundbarkeiten bereits im jüngsten Alter bekämpft werden. Die umfassenden Sozialschutzsysteme der Region spiegeln diesen lebensbegleitenden Ansatz wider und versuchen, den Risiken zu begegnen, die in verschiedenen Lebensabschnitten auftreten: der Schwangerschaftszeit, dem Säuglingsalter, der Kindheit, der Jugend und der Zeit des Erwachsenwerdens, dem Erwachsenenalter (Arbeitsleben) und dem Alter.

Auch wenn es regional beträchtliche Unterschiede bei der sozialen Absicherung gibt, ist das effektive Niveau der sozialen Absicherung (ohne Gesundheitsversorgung) in der Region hoch, denn 83.9 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu mindestens einer Sozialschutzleistung. Zwei von drei schutzbedürftigen Personen – definiert als alle Kinder und alle Erwachsenen, die nicht durch beitragsabhängige Systeme abgedeckt sind, oder diejenigen, die das Rentenalter überschritten haben, aber keine beitragsabhängige Rente beziehen – sind von Sozialhilfe gedeckt (IAA, 2017, S. 158-163).

Wie im Folgenden erörtert wird, trägt eine Reihe von Innovationen im Bereich der sozialen Sicherheit dazu bei, dass Kinder, Jugendliche, Arbeitsmigranten, informell Beschäftigte und Erwachsene im erwerbsfähigen Alter in der Region Europa stärker integriert werden.

Investitionen in die Zukunft gefährdeter Kinder

Um der generationenübergreifenden Armut ein Ende zu setzen, empfiehlt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) den Ländern, Strategien für das Wohlergehen von Kindern zu entwickeln, die den Bedürfnissen gefährdeter Kinder Vorrang einräumen und sie in die Lage versetzen, frühe Benachteiligungen im Leben zu überwinden. Die Gefährdung von Kindern hat viele Ursachen, von denen einige auf individuelle Faktoren (Behinderung, psychische Probleme, Migrationshintergrund, Misshandlung, instabiles häusliches Umfeld), familiäre Faktoren (materieller Mangel, elterliche Fähigkeiten, Bildungsniveau der Eltern, familiärer Stress und Gewalt) und gemeinschaftliche Faktoren – im Zusammenhang mit dem schulischen und nachbarschaftlichen Umfeld – zurückgehen (OECD, 2019, S. 19-22). Wird diesen Benachteiligungen nicht begegnet, könnte es nach Schätzungen der OECD vier bis fünf Generationen – oder bis zu 150 Jahre – dauern, bis ein Kind, das in eine Familie mit niedrigem Einkommen hineingeboren wird, in der Lage wäre, das Durchschnittseinkommen eines Landes zu verdienen (OECD, 2018).

Die Förderung und Verbesserung der Bildungsergebnisse sind der Schlüssel, um die Chancen für gefährdete Kinder zu erhöhen (OECD, 2019). Zu den Länderbeispielen gehört Schottland, wo Kinder aus benachteiligten Familien im Alter von 2 bis 4 Jahren seit 2014 zusätzlich zu den normalen kostenlosen Betreuungsstunden von etwa 12 Wochenstunden Anspruch auf 16 Wochenstunden (600 Stunden pro Jahr) frühkindliche Bildung und Kinderbetreuung haben. In den Niederlanden gibt es sowohl in der Kinderbetreuung als auch in Spielgruppen gezielte Programme für Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren aus benachteiligten Verhältnissen. In Norwegen hat sich die Einschulungsrate in der frühkindlichen Bildung und Betreuung verbessert, nachdem eine Reihe von Anreizen für benachteiligte Familien geschaffen wurde, darunter die Begrenzung der jährlichen Gebühren auf höchstens 6 Prozent des Familieneinkommens (OECD, 2019).

In Frankreich hilft die Landeskasse für Familienzulagen (Caisse nationale d‘allocations familiales – CNAF) Flüchtlingsfamilien dabei, sich zu integrieren und kulturelle Barrieren zu überwinden, indem sie ihnen Zugang zu Betreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter, zu außerschulischen Einrichtungen für Schulkinder und zu soziokulturellen Zentren und Elternunterstützung verschafft.

Außerdem hat die CNAF vor kurzem die neue Website Birth pathway eingerichtet, die Zugang zu allen Informationen über verfügbare Dienstleistungen und Leistungen erlaubt, auf die werdende Eltern vom dritten Schwangerschaftsmonat bis zum dritten Geburtstag des Kindes Anspruch haben. Zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren wird die Website von allen Sozialschutzpartnern in Frankreich koordiniert, einschließlich der Kasse für Familienzulagen (Caisse d’allocations familiales – CAF), der örtlichen Primärkrankenkasse (Caisse primaire d’assurance maladie – CPAM) und der Arbeitsagentur (Pôle emploi).

Der Staatliche Sozialversicherungsfonds Kasachstans nutzt das Regierungsprogramm Digital Kazakhstan, um die Mitglieder proaktiv (statt reaktiv) über Kinderbetreuungsdienste, Mutterschaftsleistungen, Leistungen für adoptierte Neugeborene und Kinderbetreuung bis zum ersten Geburtstag des Kindes zu informieren. Im Fürstentum Monaco wurde 2020 ein neues Gesetz verabschiedet, das Selbstständigen Zugang zu den gleichen Familienleistungen wie Arbeitnehmern gewährt. In der Türkei hat die Sozialversicherungsanstalt 2019 die Programme EDUCARE und INSTCARE aufgelegt, die frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote bereitstellen, damit Frauen mit kleinen Kindern weiterhin einer Beschäftigung nachgehen können.

Übergang von der Schule in den Beruf

Seit einigen Jahren geben die Jugendarbeitslosigkeit und die Arbeitsmarktbeteiligung der Jugendlichen (junge Arbeitnehmer zwischen 15 und 24 Jahren) Anlass zur Sorge.

In einer Umfrage zum Übergang von der Schule in den Beruf nannten junge Arbeitnehmer zwischen 15 und 29 Jahren fünf Hauptgründe für ihre Entmutigung bei der Arbeitssuche: nämlich, i) dass keine lokalen Arbeitsplätze verfügbar sind, ii) sie keine Kenntnisse darüber haben, wie oder wo Arbeit zu finden ist, iii) sie keine geeigneten Arbeitsplätze finden, iv) dass die Arbeitssuche erfolglos ist und v) sie zu jung sind, um Arbeit zu finden (Elder und Kring, 2021).

Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der Arbeitsämter. Diese sollten sich außerdem mit der Bildungs- und Beschäftigungspolitik sowie mit der sozialen Sicherheit abstimmen und vernetzen. Letztere sollte die allgemeine und berufliche Bildung erleichtern und den Arbeitnehmern sozialen Schutz bieten.

Zu den Bemühungen, den Übergang von der Schule ins Berufsleben zu erleichtern, können Berufslehren, eine Kombination aus Unterricht und praktischer Ausbildung sowie die Förderung von Unternehmertum und Selbstständigkeit junger Menschen gehören.

Berufslehren

In Österreich, Deutschland und der Schweiz haben Berufsausbildungsprogramme auf dem Arbeitsmarkt eine lange Tradition. Sie bringen typischerweise junge Arbeitnehmer mit Arbeitgebern des privaten oder öffentlichen Sektors für einen ausreichend langen Zeitraum zusammen, der es ihnen erlaubt, eine Qualifikation zu erwerben.

Hinsichtlich der Beteiligung der Organisationen der sozialen Sicherheit unterstützt Italiens Gesamtstaatliches Versicherungsinstitut für Arbeitsunfälle (Istituto Nazionale per l’Assicurazione contro gli Infortuni sul Lavoro – INAIL) den Ausbildungsbedarf von Auszubildenden durch die e-Learning-Plattform Studiare il Lavoro. Anhand von aktuellen Fallbeispielen sowie interaktiven Videospielen und Animationen werden Schüler im Alter von 15 bis 18 Jahren über die Bedeutung von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz unterrichtet.

Unternehmertum und Selbstständigkeit Jugendlicher

Die Aufnahme einer Geschäftstätigkeit als Unternehmer oder Selbstständiger ist für Jugendliche eine weitere Option, in das Erwerbsleben einzusteigen. Die politische Unterstützung beinhaltet den Zugang zu Finanzdienstleistungen und lebenslangem Lernen, um die entsprechenden – einschließlich technischer und beruflicher – Fähigkeiten zu erwerben (Weidenkaff und Witte, 2021). Ziel ist es, Start-ups Zugang zu Fähigkeiten, Wissen, Finanzmitteln, Märkten und Netzwerken zu verschaffen, die wiederum Arbeitsplätze für junge Arbeitnehmer und Gleichaltrige schaffen können.

Eine wachsende Zahl junger Menschen wendet sich der Arbeit auf digitalen Plattformen zu, da sie oft nur begrenzte Möglichkeiten haben, eine anständig bezahlte Beschäftigung zu finden. Laut einer Umfrage von 2016/17 arbeiteten durchschnittlich 4,9 Prozent der jungen Arbeitnehmer in Österreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schweden, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich in der digitalen Plattformwirtschaft (Pinedo Caro, O’Higgins und Berg, 2021).

Für alle Länder der Region stellt der Arbeitsmarktstatus von Arbeitnehmern in der digitalen Plattformwirtschaft eine Reihe komplexer rechtlicher Fragen dar. Eine gemeinsame rechtliche Herausforderung besteht darin, zu bestimmen, ob Arbeitnehmer der digitalen Plattformwirtschaft selbstständig oder abhängig beschäftigt sind. Diese Unterscheidung ist wichtig, da der Beschäftigungsstatus über die Rechte der Arbeitnehmer, einschließlich des Zugangs zur sozialen Sicherheit, entscheidet. Obwohl die wachsende digitale Plattformwirtschaft neue Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, ist diese Arbeit nach wie vor prekär, das Lohnniveau oft niedrig und unsicher, und die Arbeitnehmer haben nur begrenzten Zugang zu Arbeitsschutzmaßnahmen sowie zu Sozialversicherungsschutz.

Mit Blick auf die Post-COVID-Erholung besteht eine dringende Notwendigkeit darin, die Arbeitsmarkt- und Sozialschutzrechte der Arbeitnehmer in der digitalen Plattformwirtschaft auf koordiniertere Weise zu stärken (IAA, 2021b).

Soziale Inklusion von Arbeitsmigranten

Weltweit gibt es schätzungsweise 169 Millionen internationale Arbeitsmigranten, von denen 63,8 Millionen – oder 37,7 Prozent – in der Region Europa leben (IAA, 2021c).

Bilaterale oder multilaterale Vereinbarungen über soziale Sicherheit gehören zu den wirksamsten Mitteln, um den Sozialschutz auf Arbeitsmigranten auszuweiten. Die EU-Verordnung Nr. 883/2004 ist die größte multilaterale Vereinbarung der sozialen Sicherheit in der Region und gilt für 31 Länder, darunter die EU-27, und die vier Länder der Europäischen Freihandelsassoziation (Iha, 2022).

Viele europäische Länder weiten den Sozialschutz auf irreguläre Arbeitsmigranten aus (IAA, 2021d, S. 165–168). Irreguläre Migranten sind nach der Definition der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Arbeitsmigranten und ihrer Familienangehörigen diejenigen, die nicht „berechtigt sind, in den Beschäftigungsstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten und dort eine vergütete Tätigkeit auszuüben, und zwar nach dem Recht dieses Staates und nach internationalen Übereinkünften, denen dieser Staat beigetreten ist”.

Zu den Ländern, die diesbezüglich unilaterale Maßnahmen ergriffen haben, gehören:

  • Belgien, wo Migranten, die sich in einer irregulären Situation befinden, Anspruch auf dringende medizinische Versorgung haben, wenn sie in einem Gebiet wohnen, das von einem öffentlichen Sozialhilfezentrum abgedeckt wird, und/oder nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um für ihre eigene medizinische Versorgung zu bezahlen;
  • Zypern, wo Arbeitsinspektoren, die auf nicht registrierte oder irregulär beschäftigte Arbeitnehmer stoßen, den Arbeitgeber auffordern, diese bei der Sozialversicherung anzumelden, die alle Erwerbstätigen des Landes erfasst;
  • Frankreich, wo Arbeitsmigranten, die sich in einer irregulären Situation befinden, Anspruch auf staatliche Gesundheitsunterstützung (Aide médicale d‘État – AME) haben, die bis zu 100 Prozent ihrer Gesundheitskosten abdeckt, sofern sie sich seit mindestens drei Monaten ohne Unterbrechung in Frankreich aufhalten und ihre finanziellen Mittel unter einem bestimmten Schwellenwert liegen;
  • Deutschland, wo Arbeitsmigranten, die sich in einer irregulären Situation befinden, Zugang zu medizinischer Notfallversorgung haben und die Erstattung der Kosten beantragen können, ohne eine Anzeige oder Abschiebung befürchten zu müssen, da das Verfahren vertraulich ist;
  • Portugal, wo irreguläre Migranten, die nicht nachweisen können, dass sie sich länger als 90 Tage in Portugal aufhalten, dennoch Anspruch auf bestimmte kostenlose Gesundheitsleistungen haben, zum Beispiel dringende medizinische Versorgung, Gesundheitsfürsorge für Mütter, Kinder und Jugendliche, Behandlung bestimmter übertragbarer Krankheiten wie HIV/ Aids oder Tuberkulose und Impfungen;
  • Schweden, wo die Rechtsvorschriften über die gesundheitliche und medizinische Versorgung von Personen ohne die erforderliche Genehmigung das Recht auf medizinische Versorgung gewähren; und
  • die Schweiz, wo der Versicherungsschutz von Arbeitsmigranten nicht auf dem rechtlichen Status, sondern auf der Verpflichtung zur Anmeldung bei einem Sozialversicherungssystem beruht.

Informell Beschäftigte und Erwachsene im erwerbsfähigen Alter

Informelle Beschäftigung

In der Region gibt es eine umfangreiche informelle Wirtschaft. Schätzungsweise geht jeder vierte Erwerbstätige (25,1 Prozent) in der Region einer informellen Beschäftigung nach. Die Zahl sinkt auf ein Fünftel (20,9 Prozent), wenn der Agrarsektor nicht berücksichtigt wird. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Teilregionen. In Nord-, Süd- und Westeuropa entfallen 14,3 Prozent der Erwerbstätigen auf die informelle Wirtschaft, in Osteuropa sind es 31,5 Prozent und in Zentral- und Westasien 43,4 Prozent. Der Anteil der informellen Beschäftigung ist in Tadschikistan (74,8 Prozent), Albanien (61 Prozent) und Armenien (52,1 Prozent) am höchsten, während in den nordischen Ländern sowie in Estland, Luxemburg, Malta und Slowenien die Anteile im einstelligen Bereich liegen (IAA, 2018).

Abhängigkeit von Leistungen

Das Risiko der Abhängigkeit von Leistungen, insbesondere bei Sozialhilfezahlungen, wird häufig von den Behörden angesprochen, die Einkommenstransfers und beitragsunabhängige Programme verwalten. Dies war eine Herausforderung für das maltesische Ministerium für Familie, Kinderrechte und soziale Solidarität. Die Politik war besorgt, dass die maltesischen Sozialhilfeprogramme die Abhängigkeit fördern, von der Annahme eines Jobs abhalten und zu einer so genannten Sozialleistungsfalle führen.

Daher startete die maltesische Regierung im Jahr 2014 ihr Making-work-pay-Programm („Arbeit lohnend machen“), das aus einer Reihe aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen besteht, die darauf abzielen, über einen Dreijahreszyklus die Qualifikationen der Programmteilnehmer zu verbessern, ihnen Arbeit zu verschaffen und ihren Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt mit Unterstützung von Arbeitgebern des Privatsektors zu fördern. Das Programm hat Malta dabei geholfen, die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu verringern, die Beschäftigung zu steigern, die Armut zu verringern und die Eingliederung zu verbessern.

Förderung der Beschäftigung von Erwachsenen im arbeitsfähigen Alter

Durch die globale Finanzkrise 2007–08 und die darauffolgende wirtschaftliche Rezession stieg die Arbeitslosenquote in Irland im Zeitraum 2008–2012 um 300 Prozent. Zu dieser Zeit wurden die Sozialschutz- und Arbeitsvermittlungsdienste des Landes von drei großen und getrennten Agenturen verwaltet, was zu einer fragmentierten Leistungserbringung führte. Um auf diese Herausforderung zu reagieren, wurde die Verwaltungsverantwortung bei einer der Agenturen, dem Ministerium für Sozialschutz (Department of Social Protection – DSP), zentralisiert, in dem die beiden anderen Agenturen zusammengelegt wurden. Wohlfahrts- und Beschäftigungsdienstleistungen wurden über zentrale Anlaufstellen, die sogenannten „Intreo“-Zentren, erbracht. Die Bearbeitungszeiten für Transaktionen wurden von drei Wochen auf etwa drei Tage verkürzt. Die Vorlaufzeit für die Einschaltung der Arbeitsämter wurde von mindestens drei Monaten auf etwa zwei Wochen verkürzt. Die Verbleibsquote, ein Maß für den Übergang von Kurzzeitarbeitslosen zur Langzeitarbeitslosigkeit, wurde von 35 auf 26 Prozent gesenkt. Die Progressionsrate, ein Maß für die Zahl derjenigen, die aus einem Leistungsprogramm ausscheiden, stieg bei den Langzeitarbeitslosen von 25 auf 44 Prozent.

Durch das Zusammenbringen von Sozialschutz und Arbeitsämtern kann die Zahlung von Leistungen an arbeitslose Menschen besser mit der wichtigen Aufgabe verknüpft werden, ihre Arbeitssuche und die damit verbundenen Möglichkeiten zu unterstützen. In Irland wurden die transaktionsbasierten Dienstleistungen der ursprünglich drei Agenturen (Bearbeitung von Ansprüchen und Zahlungen) in ein proaktiveres und effektiveres Kunden-Fallmanagement umgewandelt. Die vom DSP erzielten Effizienzgewinne zeigen, was durch die koordinierte Umsetzung von Politiken und Programmen über mehrere Agenturen hinweg erreicht werden kann. Durch den Aufbau und die Nutzung von Synergien, in diesem Fall zwischen Sozialschutz und Arbeitsämtern, werden die Ergebnisse der sozialen Sicherheit verbessert und maximiert.

Gute Praxis

Malta: Arbeit lohnend machen

Im Jahr 2014 startete die maltesische Regierung das Making-work-pay-Programm („Arbeit lohnend machen“) mit dem Ziel, die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu verringern, die Zahl der versicherten Arbeitsplätze zu erhöhen und die Wirtschaft anzukurbeln. Das Programm bietet eine Vielzahl aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die Anreize für die Rückkehr von Nichterwerbstätigen oder Arbeitslosen in das Erwerbsleben schaffen, zudem ein Sozialleistungssystem bei Erwerbstätigkeit, kostenlose Kinderbetreuung für erwerbstätige und in der Ausbildung befindliche Eltern sowie Betreuung für Grundschüler vor und nach den Schulstunden. Wichtig ist, dass die Leistungsbeträge über einen Zeitraum von drei Jahren gestaffelt sind, um die Programmempfänger von der Sozialhilfe zu entwöhnen. Außerdem:

  • ist die Leistung für eine Doppelverdienerfamilie höher als für eine Alleinverdienerfamilie, um für den zweiten Elternteil (gewöhnlich die Mutter) einen Beschäftigungsanreiz zu schaffen;
  • sollen die kostenlose Kinderbetreuung und der Hort für Kleinkinder es den Müttern ermöglichen, Vollzeit zu arbeiten;
  • arbeitet das Ministerium für Familie, Kinderrechte und soziale Solidarität mit privaten Arbeitgebern zusammen, um den Programmteilnehmern Praktikumsplätze anzubieten;
  • verringern sich die Sozialhilfeleistungen über einen Zeitraum von drei Jahren von 65 Prozent auf 45 und 25 Prozent. Damit sollen die Programmteilnehmer motiviert werden;
  • erhalten private Arbeitgeber im gleichen Dreijahreszeitraum 25 Prozent der Sozialhilfe als Ausbildungsförderung für die Programmteilnehmer;
  • spart das Ministerium in demselben Dreijahreszeitraum schrittweise 10, 30 und 50 Prozent der Sozialhilfeausgaben ein, die es in Arbeitsvermittlungsdienste, Ausbildungsprogramme und andere Armutsbekämpfungsprogramme umlenkt.

Quelle: IVSS (2022).

Türkei: Umsetzung des Programms „Übergang zur formellen Beschäftigung“

Die durch den 2011 begonnenen Syrienkonflikt ausgelöste Flüchtlingskrise wurde zunächst als humanitärer Notfall betrachtet. Die Massenmigration von Syrern in die Nachbarländer hat seitdem neue Fragen zu ihrer Integration und Entwicklung sowie zur Verantwortungsaufteilung für die Verbesserung ihrer Situation aufgeworfen. In diesem Zusammenhang hat die Türkei das Transition-to-Formality-Programm (TFP) gestartet.

Das TFP zielt darauf ab, formelle Beschäftigung und den Zugang zu menschenwürdiger Arbeit in den Aufnahmegemeinschaften für Syrer unter zeitweiligem Schutz (Syrians Under Temporary Protection – SUTP) zu fördern, die wegen des Konflikts in Syrien in die Türkei geflüchtet sind. Das Programm ist auch für türkische Staatsbürger zugänglich. In der Praxis bietet das TFP Arbeitgebern, die bei der SUTP gelistete Flüchtlinge und türkische Staatsangehörige einstellen, finanzielle Unterstützung. Die Arbeitgeber beantragen für die Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis, damit sie in der Türkei arbeiten können. Das TFP erstattet den Arbeitgebern die Gebühren für die Arbeitserlaubnis sowie die Sozialversicherungsbeiträge, die im Namen der TFP-Begünstigten bis zu sechs Monate lang gezahlt wurden, nachdem die Sozialversicherungsanstalt die angemeldete Beschäftigung überprüft hat.

Das TFP fördert eine Kultur der formellen Beschäftigung und ermutigt die Arbeitgeber, ihren Verpflichtungen im Bereich der sozialen Sicherheit nachzukommen. Das TFP wird seit 2019 schrittweise in den türkischen Provinzen eingeführt.

Quelle: IVSS (2022).

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