Krankengeldsysteme: Herausforderungen und Ansätze

Krankengeldsysteme: Herausforderungen und Ansätze

Krankengelder sind ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Gesundheitsschutzes und fördern das Menschenrecht auf Gesundheit und soziale Sicherheit, indem sie Verarmung aufgrund von Einkommensverlusten bei Krankheit verhindern. Die COVID-19 Krise hat das Krankengeld als wichtige Maßnahme zur Eindämmung der Pandemieausbreitung und zur Einkommenssicherung der Erkrankten ins Rampenlicht gerückt. Gleichzeitig hat die Pandemie Deckungslücken und zentrale Probleme aufgezeigt, die behoben werden müssen, damit die Krankheitsleistungen ihren Zweck erfüllen können.

Die soziale Sicherheit soll auf Lebenszyklusrisiken reagieren und umfasst alle Maßnahmen, die Geld- oder Sachleistungen bieten, um unter anderem den Schutz vor fehlendem (oder unzureichendem) Arbeitseinkommen aufgrund von Krankheit zu gewährleisten. Die Krankengeldsysteme gehörten in der Vergangenheit zu den ersten Maßnahmen, die von der sozialen Sicherheit eingeführt wurden. Das ursprüngliche Ziel der Krankengeldsysteme war es, bei vorübergehendem schlechtem Gesundheitszustand einen Einkommensersatz zu bieten und Armut zu vermeiden, eine angemessene Erholung vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz zu ermöglichen und die Verpflichtungen des Arbeitgebers zu verringern.

Seit dem Beginn der Coronavirus-Krise haben solche Systeme wieder an Aufmerksamkeit gewonnen, und die Regierungen haben den Deckungsbereich, den Umfang, die Anspruchsvoraussetzungen und die Umsetzung der bestehenden Systeme schnell angepasst.

Die Pandemie hat auch die negativen Auswirkungen von Deckungslücken beim Krankengeld aufgezeigt. Eine fehlende Deckung veranlasst die Menschen, bei Erkrankung oder angebrachter Selbstquarantäne trotzdem zur Arbeit zu gehen, was das Risiko einer Ausbreitung der Krankheit erhöht, da der Einkommensverlust bei Krankheit das Armutsrisiko für Arbeitnehmer und ihre Familien erhöht

Das Krankengeld hat sich im Rahmen der nationalen Strategien zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen als wichtiges Instrument erwiesen, um Armut und Beschäftigungsverluste aufgrund von Fehlzeiten bei der Arbeit zu verhindern. Doch es liegen noch viele Herausforderungen vor uns. Dieser Artikel gibt eine kurze Übersicht über die in Angriff zu nehmenden Prioritäten.

Wichtige Begriffe und Unterscheidungen

Die in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Begriffe sind Krankheitsurlaub, Lohnfortzahlung bei Krankheit und Krankengeld, die wie folgt unterschieden werden können (Vanhercke, Bouget und Spasova, 2017):

  • Krankheitsurlaub betrifft das Recht, bei Krankheit der Arbeit fernzubleiben und nach der Genesung an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.
  • Lohnfortzahlung bei Krankheit ist die zeitlich begrenzte Fortzahlung des Arbeitnehmerlohns (oder eines Teils davon) durch den Arbeitgeber während einer Erkrankung.
  • Krankengeld wird vom Sozialschutzsystem gewährt und in Form eines festen Satzes des früheren Verdienstes oder eines Pauschalbetrags gezahlt. Es garantiert ein angemessenes Einkommen während des Krankheitsurlaubs, wenn das Arbeitsentgelt ausgesetzt wird.

Das Krankengeld unterscheidet sich von anderen Leistungen der sozialen Sicherheit, die ähnliche oder verwandte soziale Risiken abdecken (IAO, 2020a). Gesundheitsleistungen umfassen Heil- und Vorsorgemaßnahmen oder Geldleistungen, die im Krankheitsfall den Zugang zu solchen Leistungen ermöglichen. Leistungen bei Invalidität oder (Langzeit-) Erwerbsunfähigkeit werden gewährt, wenn die Erwerbsunfähigkeit dauerhaft ist oder nach Ausschöpfung des Krankengeldes fortbesteht.

Die während der Pandemie umgesetzten befristeten Maßnahmen verwischten die Unterscheidung zwischen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Krankengeld, da sich der Staat stärker beteiligte, entweder durch Erstattung der von den Arbeitgebern geleisteten Zahlungen oder durch direkten Zugang zum Krankengeld. Der COVID-19-Krankheitsurlaub galt nicht nur bei Erkrankung, sondern auch bei obligatorischer Quarantäne und/oder der Notwendigkeit zur Selbstisolierung.

Schon vor der Pandemie gab es einige bemerkenswerte Innovationen beim Einkommensschutz im Krankheitsfall. Dazu gehören vor allem kurzfristige Leistungen für Personen, die nicht arbeiten können, weil sie ein krankes Kind oder einen pflegebedürftigen Familienangehörigen pflegen müssen. Dabei kann es sich entweder um Einzelleistungen handeln (die es in Kanada und 10 europäischen Ländern gibt) oder um Bestimmungen, die in solchen Fällen den Zugang zum Hauptkrankengeld ermöglichen (möglich in 10 Ländern in Europa, Asien und Afrika) (IVSS‑Länderprofile). (Lesen Sie auch unsere Analyse zu Leistungen und Entschädigungen für die Kinderbetreuung während der COVID-19-Pandemie)

Krankengeld und sozialer Gesundheitsschutz

Zweck des Sozialschutzes im Krankheitsfall ist es, den Zugang zur Gesundheitsversorgung und einen angemessenen finanziellen Schutz zu gewährleisten. Krankheitsurlaub, Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber im Krankheitsfall und Krankengeldsysteme sind wichtige Instrumente des Sozialschutzes, um „Einkommensverluste während Krankheitszeiten zu ersetzen. Zur Bekämpfung von Gesundheitsverschlechterung, gesundheitsbedingter Armut und Produktivitätsverlusten sind Krankengeld und Krankheitsurlaub von entscheidender Bedeutung” (IAO, 2015).

Auf internationaler Ebene ist der Krankheitsurlaub mit angemessenem Krankengeld im Übereinkommen 102 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit und im Übereinkommen 130 über ärztliche Betreuung und Krankengeld, das die Leistungsstandards in den Vordergrund stellt, in der IAO-Agenda für menschwürdige Arbeit, der Initiative für soziale Grundsicherung unter der Leitung der IAO und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 22 und 25) und schließlich im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights – ICESCR, Artikel 9) verankert.

Gemäß den Übereinkommen und Leitlinien sollten Krankengelder auf alle ausgedehnt werden, und zwar auf die wirksamste und effizienteste Art und Weise, basierend auf einer breiten Risikobeteiligung und Solidarität, zum Beispiel durch universelle Leistungssysteme, nationale Sozialversicherungssysteme, Sozialhilfesysteme oder eine Kombination dieser Systeme. Die Kosten für diese Leistungen und ihre Verwaltung sollten kollektiv und nicht allein vom Arbeitgeber oder Arbeitnehmer getragen werden (IAO, 2021).

Krankengeldsysteme: verschiedene Mittel und Ansätze

Die Einkommenssicherheit im Krankheitsfall wird weltweit durch eine Vielzahl von Mitteln und Ansätzen gewährleistet. Die IAO schätzt, dass 62 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung, was 39 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter entspricht, einen gesetzlichen Anspruch auf eine gewisse Einkommenssicherheit haben, und zwar durch bezahlten Krankenurlaub im Rahmen der Arbeitgeberhaftung, durch Krankengeld (das von der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe gewährt wird) oder durch eine Kombination beider Mechanismen. Es gibt große regionale Unterschiede, mit einem hohen Grad an gesetzlicher Absicherung in den arabischen Staaten, Zentralasien und Europa und einem niedrigeren Grad in Afrika und der Region Asien und Pazifik (IAO, 2021).

  • Die ersten Bestimmungen auf nationaler Ebene legten die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung während des Krankheitsurlaubs fest, in der Regel durch eine Klausel im Arbeitsgesetzbuch. Somit liegt die Verantwortung für den gesetzlichen Krankenurlaub bei den einzelnen Arbeitgebern (auch bekannt als „Arbeitgeberhaftung“. Nach den neuesten Daten der IVSS-Länderprofile (2018-2019) bieten 59 (32 Prozent) der 184 untersuchten Länder und Regionen1 nur Lohnfortzahlung bei Krankheit an (anstatt Krankengeld).

    Die Systeme der Arbeitgeberhaftung weisen eine Reihe von Beschränkungen auf. Was den Deckungsbereich betrifft, so schließen sie Selbständige per Definition aus. Je nach nationaler Definition können sie auch Zeit- oder Gelegenheitsarbeiter und Stundenlohn beziehende Arbeitnehmer ausschließen sowie Arbeitnehmer mit mehreren Arbeitsplätzen unzureichend schützen. Ihre Implementierung kann durch die mangelnden Arbeitsrechtskenntnisse auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, die begrenzte Kapazität der Arbeitsaufsichtsbehörden und die Arbeitgeberdoppelbelastung – durch die Bezahlung sowohl des abwesenden Arbeitnehmers als auch seiner Vertretung – verhindert werden. Hinzu kommt, dass diese Leistungen in der Regel nur für eine kurze Dauer gewährt werden, wobei etwa die Hälfte der Länder bis zu sechs Wochen Lohnfortzahlung bei Krankheit garantiert und die meisten von ihnen die volle Lohnfortzahlung verlangen. Dies beeinträchtigt ihre Fähigkeit, vor schweren Krankheiten zu schützen.
  • Das Krankengeld ist eine zusätzliche Möglichkeit, um das Einkommen im Krankheitsfall zu sichern. Von den 184 untersuchten Ländern bieten 112 (61 Prozent) irgendeine Form von Krankengeld – meist über ein Sozialversicherungssystem (106 Länder oder 95 Prozent) –, ein gemischtes System oder eine andere Regelung an.

    Aus einer Reihe von Gründen bietet das Krankengeld einen stärkeren Schutz. In erster Linie werden die Krankengelder durch Beiträge oder staatliche Einnahmen finanziert, was den Druck auf den unmittelbaren Cashflow der Unternehmen verringert. Zweitens können regelmäßige Beiträge das Bewusstsein für Rechte und Pflichten schärfen und anspruchsberechtigte Arbeitnehmer dazu ermutigen, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Schließlich haben diese Systeme in der Regel eine größere Reichweite. Von den 112 Krankengeldleistungen anbietenden Ländern decken die meisten – entweder auf obligatorischer oder freiwilliger Basis – Selbständige ab (68 bzw. 18 Länder). In Thailand werden neben den Beschäftigten des formellen Sektors auch die Beschäftigten des informellen Sektors erfasst. Nur eine Minderheit schließt Selbstständige formell aus (26 Länder). Ebenso ist es sehr selten, dass Gelegenheits- oder Zeitarbeiter formell ausgeschlossen werden, obwohl es diese Gruppen aufgrund unzureichender Anwartschaftszeiten an wirksamem Versicherungsschutz fehlen könnte.

Hinsichtlich der Anwartschaftszeiten gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern. Während ein Drittel der Länder keine Anwartschaftszeit kennt, legen die übrigen zwei Drittel Zeiten fest, die von weniger als drei Monaten bis zu mehr als neun Monaten reichen, wie Schaubild 1 zeigt.

Schaubild 1. Mindestanwartschaftszeit2 für Krankengeld (Anzahl der Länder: 112)Schaubild 1. Mindestanwartschaftszeit für Krankengeld

Auch die Höhe und Dauer der Leistungen sind sehr unterschiedlich. Die überwiegende Mehrheit der Länder (101 Länder oder 90 Prozent) berechnet die Leistungen als Prozentsatz des früheren Lohns, der zwischen 38 und 100 Prozent schwankt, wie im folgenden Schaubild 2 dargestellt. Die Lohnersatzquote kann im Laufe der Zeit variieren, entweder steigen (12 Länder) oder sinken (acht Länder). Darüber hinaus bieten neun Länder Arbeitnehmern mit längeren Beitragszeiten eine höhere Lohnersatzquote. Südafrika ist das einzige Land, in dem die Lohnersatzquote an das Einkommen angepasst wird, so dass Personen mit niedrigerem Einkommen einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens erhalten als Personen mit höherem Einkommen.

Schaubild 2. Lohnersatzquote (Anzahl der Länder: 101)

Schaubild 2. Lohnersatzquote

Auch bei der Dauer des Krankengeldes gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern: Einige Länder gewähren Leistungen für nur sieben Tage, während andere bis zu drei Jahre oder sogar bis zur vollständigen Genesung gewähren (siehe Schaubild 3). Die häufigste Bezugsdauer von Krankengeld beträgt sechs Monate (38 Länder), gefolgt von 12 Monaten (21 Länder). Vermutlich können die betroffenen Arbeitnehmer nach diesem Zeitraum Invalidenleistungen beantragen.

Schaubild 3. Leistungsbezugsdauer (Anzahl der Länder: 102)

Schaubild 3. Leistungsbezugsdauer

Die Bedeutung von Krankengeld während der COVID‑19‑Krise

Dieses Kurzzeitleistungssystem ist durch die Pandemie in den Mittelpunkt der staatlichen Maßnahmen zur Bewältigung der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Coronavirus-Krise gerückt, was weit über den ursprünglichen Zweck der Krankengeldsysteme hinausgeht (lesen Sie dazu unsere Analyse zur COVID-19-Krise: wachsende Aufmerksamkeit für Krankengeld (IVSS, 2020)).

Neben der Sicherung der Leistungserbringung für erkrankte Arbeitnehmer haben eine Reihe von Ländern diese Regelung auch auf Arbeitnehmer ausgedehnt, die sich in Quarantäne befinden oder kranke Angehörige betreuen. Einige Länder haben auch bestimmte Voraussetzungen für den Leistungsanspruch aufgehoben, Wartezeiten verkürzt, die Leistungsniveaus erhöht oder die Leistungsbezugsdauer verlängert, um eine breitere Deckung und einen besseren Schutz zu gewährleisten.

  • In Irland wurde die Wartezeit für den Krankengeldbezug für mit dem Coronavirus infizierte oder medizinisch zur Selbstisolierung verpflichtete Personen aufgehoben. Darüber hinaus wurde die Höhe des Krankengeldes erheblich angehoben. Andere Länder wie Kanada, Dänemark, Schweden und die Vereinigten Staaten haben auf Wartezeiten verzichtet.
  • Zu den Maßnahmen in Japan gehörte die Ausweitung des Zugangs zu Krankengeld für Personen, die sich in Quarantäne befanden oder bei denen das Coronavirus diagnostiziert worden war; in diesen Fällen wurde auf die Vorlage eines ärztlichen Attests verzichtet. In Spanien wurden besondere Maßnahmen für Selbstständige ergriffen, um einen Einkommensersatz im Falle einer Coronavirus-Infektion oder einer Quarantäne zu gewährleisten.

Die gemeldeten Maßnahmen sind vorübergehend und sollen nur so lange in Kraft bleiben, wie die Pandemie andauert. In den meisten Fällen hatten diese Maßnahmen keine Auswirkungen auf das allgemeine Funktionieren der Krankengeld- und Lohnfortzahlungssysteme, sondern galten nur für Umstände, die direkt mit COVID-19 zusammenhingen, zum Beispiel Infektion, Quarantäne oder virusbedingte Selbstisolierung.

In einer Reihe von Ländern wurden auch die am Arbeitsplatz oder bei der Ausübung von Arbeitstätigkeiten zugezogenen COVID-19-Infektionen als Berufskrankheiten oder Arbeitsunfälle anerkannt (oder behandelt) (Baptista et. al, 2021). (Lesen Sie dazu unsere Analyse: Kann COVID-19 als Berufskrankheit angesehen werden?)

Jüngste Entwicklungen

Mehrere Länder sind dabei, ihre Krankengeldsysteme zu verbessern, da Krankheit alle Menschen betrifft, unabhängig von der Art des Arbeitsvertrags und unabhängig davon, ob sie beschäftigt, arbeitslos oder nicht erwerbstätig sind. Doch wie oben gezeigt, ist der Zugang zu Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und zu Krankengeld für Menschen in diesen Kategorien unterschiedlich.

Obwohl das Krankenversicherungsgesetz der Republik Korea Krankengeld vorsieht, blieben mehrere Versuche zur Umsetzung des Systems erfolglos, was teilweise auf fehlende Haushaltsmittel zurückzuführen war. Die Pandemie hat das gesetzliche Krankengeld als Teil des koreanischen New Deal für wirtschaftliches Wachstum ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Während der Pandemie verschlimmerte sich im Jahr 2020 die Ausbreitung von Infektionskrankheiten aufgrund des Präsentismus der Arbeitnehmer, d. h. des Phänomens, bei schlechtem Gesundheitszustand weiterzuarbeiten. Abgesehen von der Ansteckungsgefahr für andere Arbeitnehmer kann er zu Produktivitätsverlust und einer längeren Abwesenheit vom Arbeitsplatz zu einem späteren Zeitpunkt führen, was wiederum chronische Krankheiten zur Folge haben kann (Vanhercke, Bouget und Spasova, 2017). Ab 2022 plant die Republik Korea in sechs Regionen die Umsetzung eines Pilotprojekts und die Einführung von drei verschiedenen Arten von Krankengeld, mit einer Lohnersatzquote von 60 Prozent des Mindestlohns. Auch vom Landesdienst für Krankenversicherung (National Health Insurance Service – NHIS) wird ein elektronisches Betriebssystem entwickelt.

Die COVID-19-Krise hat den Digitalisierungsprozess in vielen Ländern beschleunigt und die Sozialversicherungsträger dazu gezwungen, die Krankengeldanträge der Bürger mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) schneller und effizienter zu bearbeiten. Während der ersten Pandemiewelle waren die Sozialversicherungsträger mit einer erheblich gestiegenen Zahl an Krankengeldanträgen und aktualisierten Anspruchsvoraussetzungen konfrontiert. Um dies zu bewältigen, wurden vereinfachte Antragssysteme (in Frankreich), telefonisch oder online durchgeführte medizinische Beurteilungen (in Deutschland und Norwegen) sowie Bemühungen zur Stärkung der Online-Informations- und Kommunikationskanäle (in Italien) entwickelt und schnell umgesetzt.

  • Finnland, das einen hohen Digitalisierungsgrad hat, bietet Krankengeldleistungen über Online-Dienste an. Nach Angaben der Sozialversicherungsanstalt (KELA) haben die Online‑Anträge einen Anteil von 73,5 Prozent (2020) erreicht, was die elektronischen Dienstleistungen für die Bürger leicht zugänglich macht und die operative Effizienz bei der Bearbeitung der Leistungsanträge erhöht.
  • Die Türkei hat ein Online-System entwickelt. Es ermöglicht die elektronische Übermittlung der Gesundheitsberichte an die Sozialversicherungsanstalt (SGK) und gleichzeitig an die Arbeitgeber, wodurch Verzögerungen bei den elektronischen Zahlungen vermieden werden.

Im Kontext der COVID-19-Gesundheitskrise haben sich zentrale Anlaufstellen – definiert als zentrale Zugangspunkte zu mehreren Organisationen der sozialen Sicherheit für die Dienstleistungserbringung in einem bestimmten Bereich – als wertvolle und vielversprechende Möglichkeit erwiesen, um den Zugang zu Dienstleistungen der sozialen Sicherheit effizient und effektiv zu maximieren. Dieser zentrale Zugangspunkt kann vor allem dann sehr nützlich sein, wenn beispielsweise die Formalitäten zur Krankengeldbeantragung im Krankheitsfall nicht persönlich erledigt werden können.

In Peru führte EsSalud – Sozialversicherung für Gesundheit (Seguro Social de Salud) einen virtuellen Rundum-Serviceschalter der Versicherten (Ventanilla Integrada Virtual del Asegurado – VIVA) (Sozialversicherung für Gesundheit, 2020) ein. VIVA zielt nicht nur darauf ab, den Leistungsempfängern einen neuen Kanal zur Verfügung zu stellen, über den sie ihre Vorgänge abwickeln und ihre EsSalud-Daten abfragen können, sondern auch darauf, die Dienstleistungsqualität zu verbessern und den Zeitaufwand für die Abwicklung der Versicherungs- und Leistungsverfahren zu verringern. (IVSS, 2021a)

Außerdem stellen digitalisierte Verfahren Instrumente zur besseren Kontrolle und Überwachung von Betrug, Fehlern und Missbrauch bereit. Wie im IVSS-Webinar über Krankengeld (IVSS, 2021b) erörtert, werden nach Angaben der französischen Landeskasse für Familienzulagen (Caisse nationale de l'assurance maladie - CNAM) etwa acht Prozent der Krankengeldzahlungen falsch berechnet. Verschiedene Vorgehensweisen wie Identitätsdiebstahl, falsche Gehaltsabrechnungen mit überhöhtem Einkommen oder ungerechtfertigte ärztliche Verschreibungen werden eingesetzt, um das System zu betrügen. Frankreich entwickelte daher wirksame Präventionsmaßnahmen mit eindeutigen digitalen Identifikatoren und verbesserten Erkennungsinstrumenten.

Krankengeld kann auch dazu beitragen, Langzeitkrankengeld und das Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt zu vermeiden. Steigende Zahlen von Langzeitkrankenständen sind ein weltweites Problem. Daher entwickelten die Länder Rehabilitations- und Wiedereingliederungsprogramme für den Arbeitsmarkt als Teil ihrer politischen Konzepte für krankheitsbedingte Fehlzeiten. In einer frühen Phase sind solche Programme von entscheidender Bedeutung, um das dauerhafte Ausscheiden von Langzeiterkrankten aus dem Arbeitsmarkt durch Frühverrentung oder Erwerbsunfähigkeitsrente zu verhindern. (Lesen Sie unsere Analyse zu Herausforderungen für die Rehabilitation in alternden Gesellschaften: Die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes/de/analysis/rehabilitation-challenges-ageing-societies-need-holistic-approach)

Idealerweise sollte die Krankengeldpolitik durch eine umfassende Präventionsagenda unterstützt werden, insbesondere in Bezug auf psychische Störungen und Rehabilitationsleistungen für Krankheiten (oder Verletzungen), die die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen.

Schlussfolgerungen

Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig der problemlose Zugang zur Gesundheitsversorgung und Einkommenssicherheit im Krankheitsfall sind – beides zentrale Ziele der Sozialschutzsysteme. Diese wurden somit erneut in den Blickpunkt gerückt und die Regierungen haben mit befristeten Maßnahmen die Deckung, Reichweite, Anspruchsvoraussetzungen und Anwendungsansätze existierender Systeme in rasantem Tempo angepasst.

Es hat sich als wichtig erwiesen, Krankengeldsysteme einzurichten und den Krankengeldschutz auf atypische Beschäftigungsformen auszuweiten, vor allem während der COVID-19-Pandemie. Weltweit erweitern Länder die Krankengeldleistungen schrittweise auf Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Diese umzusetzen, ist jedoch mit mehreren Herausforderungen verbunden und erfordert permanente Anpassungen an einen sich rasch entwickelnden Kontext.

Es ist wichtig, nationale Erfahrungen auszutauschen, damit die Länder bei der Einführung oder Verbesserung ihrer Krankengeldsysteme von den Erfahrungen und Herausforderungen anderer lernen können.

Referenzen

Baptista, I. et al. 2021. Social protection and inclusion policy responses to the COVID-19 crisis. An analysis of policies in 35 countries. (Europäisches Netzwerk für Sozialpolitik ESPN). Luxemburg, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union.

EsSalud - Sozialversicherung für Gesundheit. 2020. Virtueller Rundum-Serviceschalter der Versicherten (VIVA) (Good practices in social security). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

IAO. 2015. World Social Protection Report 2014/15: Building economic recovery, inclusive development and social justice. Genf, Internationales Arbeitsamt. Auch erhältlich auf Arabsich, Russisch und Spanisch.

IAO. 2020a. Review of international experience in social insurance sickness benefits for gig workers (Policy Brief). Genf, Internationales Arbeitsamt.

IAO. 2020b. Sickness benefits during sick leave and quarantine: Country responses and policy considerations in the context of COVID-19 (Social Protection Spotlight). Genf, Internationales Arbeitsamt. Auch erhältlich auf Bahasa Indonesien, Französisch und Spanisch.

IAO. 2020c. Sickness benefits: An introduction (Social Protection Spotlight). Genf, Internationales Arbeitsamt. Auch erhältlich auf Französisch und Spanisch.

IAO. 2021. World Social Protection Report 2020-22: Social protection at the crossroads – in pursuit of a better future. Genf, Internationales Arbeitsamt.

IVSS. 2020. COVID-19-Krise: wachsende Aufmerksamkeit für Krankengeld (Analyse). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

IVSS. 2021a. Online-One-Stop-Shops: Beispiele guter Praxis in Lateinamerika (Analyse). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

IVSS. 2021b. Sickness benefits - Challenges and national strategies (Webinar, 17. November). Genf, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit.

Peres, A. et al. 2021. “What's next for social protection in light of COVID-19: challenges ahead”, in Policy in Focus, Bd. 19, Nr. 2.

Vanhercke, B., Bouget, D., Spasova, S. 2017. Sick pay and sickness benefit schemes in the European Union: background report for the Social Protection Committee's: in-depth review on sickness benefits. Brüssel, Europäische Kommission.