Soziale Sicherheit im Zeitalter Mensch-und-digitale-Technologien: einige wichtige Erkenntnisse

Soziale Sicherheit im Zeitalter Mensch-und-digitale-Technologien: einige wichtige Erkenntnisse

Zu Beginn der COVID-19-Krise reagierten die Regierungen sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der betroffenen Personen mit unmittelbaren und groß angelegten Initiativen, um die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern. Innert kürzester Frist wurde ein Netz an Nothilfen aufgespannt, darunter finanzielle Soforthilfen und Arbeitslosenleistungen, gezielte Beihilfen, kostenlose COVID-19-Tests, bezuschusste Gesundheitsdienstleistungen und weitere Unterstützungsprogramme. In vielen Ländern setzten die Regierungen auf die Institutionen der sozialen Sicherheit, um die Hilfen und Leistungen umzusetzen und den am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen wie Geringverdienern, informell Beschäftigten, Frauen, Migranten und jungen Menschen zugutekommen zu lassen.

Elf Monate nach Ausbruch der Krise ist das vielbeschworene Licht am Ende des Tunnels noch immer schwach. Die Staaten ringen mit einer zweiten oder dritten Infektionswelle, während mit Impfungen gerade erst begonnen wurde. Die Zahlen sind düster: über 96 Millionen bestätigte COVID-19-Infizierte, mehr als 2 Millionen Todesfälle und Hunderte Millionen verlorener Arbeitsplätze. Die Anstrengungen, mit denen versucht wird, die Volkswirtschaften wiederzubeleben und die Arbeitsplatzverluste aufzufangen und wettzumachen, hängen stark davon ab, inwieweit die staatlichen Stabilisierungs- und Unterstützungsprogramme weiterlaufen, die Impfdosen breit verteilt werden und wirksam sind und die Quarantäne-, Schutz- und Abstandsregeln auch weiterhin eingehalten werden. Der vor uns liegende Weg ist nicht einfach und birgt zahlreiche Herausforderungen.

In dieser Krise stehen die Institutionen der sozialen Sicherheit an vorderster Front und versuchen gemeinsam mit den Regierungen, die Wirtschaft zu stabilisieren und das Leben und die Existenzgrundlagen der Menschen zu schützen. Die Leistungen der sozialen Sicherheit sind gerade in dieser Zeit für viele Einzelne und Familien eine wichtige Einnahmequelle für die täglichen Ausgaben, die wiederum die rezessiven Auswirkungen der Pandemie ein Stück weit auffangen dürften.

Darüber hinaus haben die Regierungen erkannt, dass sie sich vor allem für die unmittelbare Erbringung der verschiedenen Sofortleistungen und Beihilfen für die Bevölkerung auf die Institutionen der sozialen Sicherheit verlassen können. Mit der raschen Umstellung des Betriebs auf eine Online-Kommunikation, bei der menschliche Fähigkeiten und Kompetenzen mit digitalen Technologien kombiniert werden, reagierten die Institutionen der sozialen Sicherheit beeindruckend auf den großen und dringenden Bedarf der Öffentlichkeit, der durch die Pandemie entstanden war.

Soziale Sicherheit: eine Unterstützung durch Menschen und digitale Technologien

Die vergangenen elf Monate waren für viele Verwaltungsfachleute der sozialen Sicherheit gelinde gesagt eine sehr intensive Zeit. Trotz der drastischen Einschränkungen aufgrund der Pandemie haben es die Institutionen geschafft, ihr Leistungs- und Dienstleistungsangebot aufrechtzuerhalten. Dank ihrer zuverlässigen Internetverbindungen, dem externen Zugriff auf hochwertige Datenbanken und den sicheren Geschäftsprozessen haben sie in ihren bisherigen Erfahrungen gezeigt, dass Personal, das im Homeoffice arbeitet, die meisten Leistungen und Dienstleistungen mit einem Computer oder einem mobilen Endgerät schnell und zuverlässig bearbeiten kann.

Durch die Integration menschlich-digitaler Kapazitäten – ein Ansatz, in den die Institutionen der sozialen Sicherheit in den letzten Jahren stark investiert haben – konnte die Resilienz des Personals erhöht und der Einsatz digitaler Technologien ausgebaut werden. In Brasilien wandelte die Landesanstalt für soziale Sicherheit dank einer vollständig automatisierten Leistungsbearbeitung ihre Geschäftsprozesse in standardisierte digitalisierte Arbeitsabläufe um. Im kanadischen Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung sind es die Mitarbeitenden dank dem Acceleration Hub gewohnt, in persönlichem Kontakt, aber auch online zusammenzuarbeiten und mit Design Thinking nach kundenzentrierten Dienstleistungslösungen zu suchen. Diese iterativen Prozesse haben sich in der Krise als vorausschauend erwiesen.

Digitale Technologien bedeuten Geschwindigkeit, Sicherheit und Effizienz – alles Eigenschaften, die von den Kunden sehr geschätzt werden und die sich in Zeiten, in denen eine persönliche Interaktion große Gesundheitsrisiken bergen kann, als höchst effizient erwiesen haben. Für die Erbringung der sozialen Sicherheit hat die Pandemie den Paradigmenwechsel von manuellen, papier- und präsenzbasierten Prozessen hin zu Online-Plattformen und sicheren digitalen Echtzeitdienstleistungen beschleunigt.

In zwei kürzlich durchgeführten IVSS-Webinaren haben Belgien und Kanada sowie Finnland und Malaysia bestätigt, dass das Zusammenspiel von menschlichen Fähigkeiten und digitalen Technologien in der Verwaltung der sozialen Sicherheit nicht mehr nur optional sein kann, sondern ein Muss geworden ist. Vor allem in Krisenzeiten ermöglichen digitale Ökosysteme eine schnelle Reaktion auf den öffentlichen Bedarf.
 
Beim kanadischen Ministerium für Beschäftigung und soziale Entwicklung (Employment and Social Development Canada – ESDC), das in einem Notfallszenario mit 50 000 zusätzlichen Arbeitslosengeldanträgen pro Woche gerechnet hatte, gingen in den ersten Wochen der Krise tatsächlich 250 000 Anträge pro Tag ein. Die Mitarbeitenden konnten diese jedoch dank digitaler Lösungen in Rekordzeit im Homeoffice bearbeiten.

Um die gestiegene Nachfrage nach Arbeitslosengeldanträgen zu bewältigen, setzte die belgische Hilfszahlstelle für Arbeitslosenunterstützungen (Caisse Auxiliaire de Paiement des Allocations de Chômage – CAPAC) ihren strategischen Fünfjahresplan, auf neue Apps und digitale Technologien zu wechseln und das Personal ins Homeoffice zu verlagern, in lediglich zwei Monaten um. In Finnland entwickelte die Sozialversicherungsanstalt (Kansaneläkelaitos – KELA) in acht Tagen einen neuen Chatbot, der Fragen zu COVID-19 beantworten kann. Und in Malaysia schaltete der Angestelltenvorsorgefonds (Employees Provident Fund – EPF) innerhalb weniger Tage ein Online-System auf, das persönliches Vorsprechen hinfällig macht und ein direktes Hochladen der Leistungsanträge erlaubt.

Einige wichtige Erkenntnisse

Hinsichtlich der Faktoren, die es den Institutionen erlaubten, schnell auf die Pandemie zu reagieren, haben die Podiumsteilnehmer der beiden Webinare wichtige praktische Erkenntnisse zusammengetragen, und einige Herausforderungen der Telearbeit angesprochen:

  1. Entscheidend ist eine entschlossene Führung, damit die Zielsetzung klar ist. Transparenz, Vertrauen und Informationsaustausch erlauben eine Entscheidungsfindung in Echtzeit. Durch Hierarchien und Supervisionsstrukturen kann die Fähigkeit, schnell zu reagieren und sofort zu entscheiden, beeinträchtigt werden. Stattdessen sollten iterative Verbesserungen von Prototypen bevorzugt werden.
  2. In Krisenzeiten kann es wichtiger sein, schnell zu handeln, als von Anfang an alles richtig zu machen. Perfektionsdrang kann die Innovationsfähigkeit hemmen. Die Umsetzung von Lösungen, die anfänglich nur zu 80 Prozent funktionieren und später zur Perfektion iteriert werden, liefert sofort vorzeigbare Ergebnisse und stärkt das Vertrauen der Bürger.
  3. Einfachheit bedeutet Schnelligkeit. Je einfacher eine Politik zur Deckung des öffentlichen Bedarfs ist, desto leichter kann sie umgesetzt werden. Die Pandemie hat viele allzu komplexe Abläufe in den intra- und interinstitutionellen Systemen und Bestimmungen ans Tageslicht gebracht. Durch gesetzliche oder staatliche Maßnahmen zur Vereinfachung komplexer Abläufe konnte die Erbringung der Leistungen und Dienstleistungen beschleunigt werden.
  4. Wenn die Pandemie abflaut, könnte eine Tendenz entstehen, dass man zu den Regeln, Funktionen und Systemen aus der Zeit vor der Pandemie zurückkehrt, da diese nicht einfach zu ändern sind. Die Erfahrungen der Menschen mit der Bequemlichkeit und Effizienz von Online-Dienstleistungen verstärken jedoch den Druck hin zu einfacheren Programmen, die die Kundenbedürfnisse befriedigen und gleichzeitig eine größere Autonomie erlauben.
  5. Das Personal der sozialen Sicherheit hat trotz der plötzlichen Umstellung auf Telearbeit ein beispielhaftes und leidenschaftliches Engagement für den öffentlichen Dienst an den Tag gelegt. Die fortdauernden Homeoffice-Regelungen könnten jedoch psychische Beschwerden zur Folge haben. Diese Herausforderungen können unter anderem durch virtuelle Gemeinschaften, Online-Beratungsstellen und virtuelle Team-Events angegangen werden.
  6. Telearbeit wird sich weiter durchsetzen, doch bei der Führung, Unterstützung und Weiterbildung der Mitarbeitenden in einem virtuellen, mobilen und schnell sich wandelnden Umfeld stellen sich neue Herausforderungen. Die Aufrechterhaltung der Organisationskultur und die Förderung des Teamgeists sind dabei wichtige Punkte. Die Mitarbeitenden und die Vorgesetzten müssen ein Arbeitsverhältnis finden, das auf Vertrauen und gemeinsam festgelegten Produktivitätskennzahlen beruht. Mit einem Planungsinstrument können gemeinsame Telearbeitszeiten von Vorgesetzten und Mitarbeitenden vereinbart werden, damit die vordefinierten Ziele und Arbeitsergebnisse erreicht werden können.
  7. Eine digital affine Belegschaft ist schnell im Entwickeln innovativer Lösungen. Zahlreiche Institutionen der sozialen Sicherheit rechnen es sich als Verdienst an, Dinge in Rekordzeit umgesetzt zu haben: von der Umstellung des Großteils des Personals auf Telearbeit über die Lancierung neuer Online-Plattformen, Apps und digitaler Dienstleistungen bis hin zur Verabschiedung neuer Bestimmungen, die langjährige intra- und interinstitutionelle Hindernisse beseitigen. Die Verwaltungsfachleute der sozialen Sicherheit schreiben diese Erfolge hauptsächlich dem Engagement und der Leidenschaft der Mitarbeitenden für den öffentlichen Dienst zu und bestätigen, dass die größte Kreativität und Innovationskraft nach wie vor in den menschlichen Fähigkeiten Führungsstärke, Ideenfindung, Zusammenarbeit und gemeinsame Gestaltung liegen.
  8. Für Institutionen aus Entwicklungsländern, die die Reise in die digitale Welt gerade erst begonnen haben, ist es ein guter Ausgangspunkt, zunächst zu ermitteln, wie es landesweit um die Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit von Internetverbindungen bestellt ist. Mit einem kundenzentrierten Ansatz könnten die bei den Kunden am meisten verbreiteten Geräte genutzt werden, meist Mobiltelefone. Ein natürlicher Ansatz wäre, mit digitalen Dienstleistungen für diese Geräte zu beginnen.

Schlussfolgerungen

Die COVID-19-Pandemie hat den Paradigmenwechsel hin zu einer virtuellen Erbringung der sozialen Sicherheit beschleunigt. Deutet man die Pandemie als Vorzeichen weiterer Entwicklungen, dann kann die Online-Erbringung von Leistungen und Dienstleistungen der sozialen Sicherheit als ausgesprochen effektiv und günstig bezeichnet werden, da persönliche Transaktionen nicht mehr zwingend erforderlich sind. Elf Monate nach Ausbruch der Pandemie haben die Verwaltungsfachleute in den menschlich-digitalen Lösungen eine stabile, sichere und zuverlässige Antwort auf den öffentlichen Bedarf an sozialer Sicherheit gefunden.

Am 28. Januar 2021 befasst sich das Virtuelle Symposium der IVSS über Führung in der sozialen Sicherheit genauer mit der grundlegend und nachhaltig veränderten Einstellung der Institutionen der sozialen Sicherheit, die mit dem Paradigmenwechsel hin zu einer virtuellen Erbringung von Leistungen und Dienstleistungen einhergeht. Durch die Erfahrungen mit der Pandemie haben die Administratoren erkannt, dass Ideenfindung, Kreativität und Innovation am besten durch eine enge Verknüpfung der Fähigkeiten und Kompetenzen von Mitarbeitern mit digitalen Technologien erreicht werden können.

Auf dem Symposium wird auch untersucht, wie die Institutionen der sozialen Sicherheit Erkenntnisse aus Psychologie, Verbraucherverhalten und Sozialwissenschaften nutzen können, um die soziale Sicherheit zu verbessern. Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und Big Data ermöglichen die Analyse von Informationen und die Vorhersage der Bedürfnisse und Reaktionen von Menschen. Mithilfe von Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung können möglicherweise die Ergebnisse in weiteren Bereichen der Verwaltung der sozialen Sicherheit durch menschlich-digitale Lösungen verbessert werden.